Die Parteien sind alle gleich und wollen nur Macht! Die Wähler sind nur Stimmvieh! Das sind gängige Meinungen auf Facebook und YouTube. Aber ist das so? Was ist eigentlich eine Partei? Und warum müssen die ständig Kompromisse finden und regieren nicht mal durch?

Sie war eines der bekanntesten Gesichter der Piratenpartei: Marina Weisband arbeite von Mai 2011 bis April 2012 als politische Geschäftsführerin und war damit auch Mitglied des Bundesvorstands der Piratenpartei Deutschland. Heute arbeitet sie in der politischen Bildung. Im #wtf?!-Interview spricht sie über ihre Arbeit an der Parteispitze und  Parteien.

Wie groß muss das Ego eines Menschen sein, wenn er in eine Parteispitze aufrückt?

Ich glaube, da muss man ein gesundes Ego haben. Nicht nur, um sich zuzutrauen, für 13.000 Mitglieder zu sprechen, sondern auch, um damit zurechtzukommen, dass man kritisiert wird. Sobald man in der Öffentlichkeit ist, wird man natürlich immer kritisiert. Davon darf man sich nicht so bedrängt fühlen, dass man aufhört zu arbeiten. Andererseits muss man auch so stark sein, Kritik aufzunehmen und sein Verhalten gegebenenfalls auch zu ändern. Ich glaube, das ist ein Balance-Akt. Also kein zu großes, aber auch kein zu kleines Ego.

Wie stark leidet das Ego an Mehrheitsentscheidungen gegen die eigene Meinung?

Bei mir nie so stark. Ich habe nicht das Gefühl, die Weisheit mit Löffeln gegessen zu haben. Ich fand es immer gut, dass unsere Partei eine sehr große Mitgliederbeteiligung hatte. Da konnte ich mich immer auf einen gewissen Rückhalt der Vielen verlassen, die in ihren Diskussionen Meinungen entwickelt haben, die vielleicht klüger waren als meine eigene. Diese Meinung konnte ich dann wieder gut nach außen verkaufen. Ich habe bei diesen Diskussionen immer intensiv zugehört, weil die mir auch Argumente gegeben haben. Insofern glaube ich nicht, dass es einen riesigen Dissens gab zwischen mir und der Partei. Wo es den dann gab, habe ich aber immer respektiert, dass die vielleicht Recht und ich Unrecht haben könnte. Öffentlich habe ich dann gesagt: Die Meinung der Partei ist soundso, ich persönlich sehe aber auch die und die Argumente.

Du hattest also nie das Gefühl, dass du ein riesiges Herzensthema von dir hattest, dass dann in der Partei keine Mehrheit gefunden hat?

Nun ja, bis es zu diesem Wendepunkt kam. Mein Herzensthema war immer Liquid Democracy. Als die Partei das als verbindliches Werkzeug abgelehnt hat, war ich enttäuscht. Klar, es gab auch gute Argumente dagegen. Ich habe aber immer gesagt, warum ich diese Argumente nicht so stark finde wie die Argumente für Liquid Democracy.

Du forderst, dass sich Menschen auch kurzfristig in verschiedenen Parteien einsetzen können. Wie soll das funktionieren?

Eine ganz banale Möglichkeit, die die Piraten zum Beispiel anbieten, ist doppelte Parteimitgliedschaft. Ich gehe davon aus, dass die Partei nicht mehr Teil der eigenen Identität oder gar der Familienidentität ist, wie das früher vielleicht war, sondern, dass sie ein Werkzeug ist.

Außerdem sollten Parteien auch offen für die Beteiligung von Nicht-Mitgliedern sein. Dass auch dort demokratische Prozesse zu einzelnen Fragen angeregt werden können. Wenn die Parteien bei Stuttgart 21 von Anfang an eine öffentliche Kampagne betrieben hätten, bei der auch Nichtmitglieder aktiv eingeladen worden wären, wäre das ganze Projekt wahrscheinlich nicht so eskaliert.

Aber am Ende kann man trotzdem nur eine Partei wählen, die dann wahrscheinlich nicht all meine Interessen vertritt. Wäre das ein System, was du überarbeiten würdest?

Ich plädiere nie für eine grundsätzliche Änderung des demokratischen Systems in Deutschland, sondern nur für eine kleine Erweiterung, die auch parallel funktionieren würde. Das wäre eine Art Liquid-Democracy-System für die gesamte deutsche Bevölkerung. Es gäbe also ein Online-Tool, wo jeder Bürger seine Argumente zu einer Diskussion hinzufügen kann. Das wäre nicht verbindlich, aber kann die öffentliche Meinung abbilden.

Was würde das ändern?

Parteien und die Regierung richten sich sehr oft nach Umfrageergebnissen, die jedoch nie demokratisch sind, weil immer nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung befragt wird. Das wäre eine Möglichkeit, viele Leute ganz unabhängig von Parteien zu involvieren. Damit könnte man die Politik der Regierung beeinflussen, ohne die Grundsätze unserer Demokratie anzugreifen.

Sollte das Wahlverfahren geändert werden?

Ich tue mich sehr schwer damit, zum Beispiel am Wahlverfahren etwas zu ändern. Auch meinen früheren Vorschlag, das Parlament durch Liquid Democracy zu ändern, halte ich mittlerweile für keine gute Idee mehr. Das wäre gefährlich. Wir haben mit gutem Grund eine Gewaltenteilung. Ich fühle mich nicht kompetent, das System zu überarbeiten, ohne Gefahr zu laufen, einer potentiellen Diktatur das Tor zu öffnen. Aber ich denke: Wenn wir die Meinung und die öffentliche Debatte parallel zum Parlament und zum Parteiensystem auch noch auf einer offeneren Plattform stattfinden, kann das nur eine Bereicherung sein.

Parteien machen, was sie wollen? Ihre Mitglieder haben mit dem Volk nichts mehr zu tun? Stimmt so nicht – denn (fast) jeder kann sich einer Partei anschließen. Eine Partei ist also nichts anderes als eine Gruppe von Menschen mit ähnlichen Vorstellungen.

Fünf Gründe für die Mitgliedschaft:

  1. Mitbestimmung: Meckern hat noch nie viel gebracht. Sinnvoller ist es, sich einzumischen und mitzugestalten. Wird einem Herzensthema nicht genug Beachtung geschenkt, kann es sehr wirksam sein, in einer Partei selbst dafür zu kämpfen.
  2. Verantwortung übernehmen: Es gibt viele Möglichkeiten, in einer Partei Verantwortung zu übernehmen: ob als aktives Mitglied, Schatzmeister oder Beisitzer im Vorstand. Außerdem ist eine Mitgliedschaft ein gutes Sprungbrett für öffentliche Ämter: Bürgermeister, Abgeordnete oder Bundeskanzler – fast alle haben ihre politische Arbeit in einer Partei begonnen.
  3. Demokratisches System unterstützen: Im Grundgesetz steht, dass Parteien auf die politische Willensbildung des Volkes einwirken. Und der Wille des Volkes zeigt sich in demokratischen Wahlen. Um also den Wählern zu ihrem Willen zu verhelfen, müssen auch Parteien demokratisch organisiert sein. Damit das klappt, brauchen sie Mitglieder, die diskutieren, Ideen einbringen und sich zur Wahl stellen.
  4. Erfahrung sammeln: Die Arbeit in Parteien kann extrem bereichern. Viele politische Prozesse sind nicht gerade einfach zu durchblicken. Da steigt man leichter durch, wenn man es selbst erlebt. Außerdem lernt man als Parteimitglied, wie eine sachliche Diskussion abläuft, wie und warum Kompromisse gefunden werden und was gute Arbeitsteilung heißt.
  5. Etwas Sinnvolles tun: Es gibt viele Möglichkeiten, seine Freizeit zu gestalten. Sich parteipolitisch zu engagieren ist nicht nur gut für einen selbst, sondern für die ganze Gesellschaft. Und ganz nebenbei lernt man viele spannende Leute kennen.

Christian Demuth ist Politikwissenschaftler, parlamentarischer Berater der SPD-Fraktion im sächsischen Landtag und Vorsitzender des Bürgervereins Bürger.Courage in Dresden. Gemeinsamkeiten unter den Parteien findet er nicht prinzipiell schlecht.

Sind sich die etablierten Parteien wirklich so ähnlich?
Ich glaube, die Parteien unterscheiden sich heute wieder stärker als vor ein paar Jahren. Es braucht Alternativen in der Demokratie. Große Unterschiede haben aber auch Nachteile: Als früher die Unterschiede viel radikaler waren, konnten Parteien überhaupt nicht zusammenarbeiten. Ich bin froh, dass heute das demokratische System nicht mehr infrage gestellt wird und dass es fast keine Partei mehr gibt, die zum Beispiel das Frauenwahlrecht ablehnt. Es ist gut, dass die grobe Richtung klar ist, in die wir als Gesellschaft wollen.

Ist es dann egal, welche Partei ich wähle, wenn die Richtung sowieso klar ist?
Die Programme der Parteien zeigen, dass es Unterschiede gibt, die erhebliche Auswirkungen auf das Leben der Menschen haben. Es sind wichtige Fragen, ob eine Partei einen Mindestlohn einführen, Steuern für Reiche ansetzen oder den Euro abschaffen will oder nicht. Das Problem ist: Viele Leute haben wenig Lust, sich mit Details von Politik zu befassen und machen es sich zu einfach. Die Details machen aber oft den großen Unterschied.

Das heißt, wenn ich mich mit Politik befassen will, muss ich mir seitenweise Parteiprogramme durchlesen?
Nicht unbedingt. Alle Parteien haben eine grundsätzliche Linie, der man im Zweifel mehr oder weniger vertrauen kann. Wenn ich die Grünen wähle, bekomme ich eine Partei, die im Zweifel ökologisch handelt. Die SPD wird sich eher für soziale Gerechtigkeit und Arbeitsplatzsicherheit entscheiden. Ersteres ist auch immer für die Linkspartei besonders wichtig. Die CDU guckt sehr auf die Wirtschaft und der FDP ist das Verhalten des Einzelnen sehr wichtig. Die AfD ist eine Partei, die man eher wählen wird, wenn man rechts-konservativ ist. Um diese Unterschiede wahrzunehmen, braucht man keine Parteiprogramme.

Woher weiß ich aber, was zu mir passt?
Es geht darum, sich zu fragen, in was für einer Gesellschaft man wie leben will. Das gilt aber eben nicht nur für einzelne Politikfelder, sondern das Ganze ist entscheidend. Aber: Schimpfen alleine reicht nicht.

Kann man darauf vertrauen, dass Parteien Wahlversprechen auch einhalten?
In der Regel ja. Vor allem die Haupt-Forderungen werden meist umgesetzt. Ob sich die damit verbundenen Versprechungen und Hoffnungen erfüllen, steht auf einem anderen Blatt. Weil man zum Regieren meist einen Koalitionspartner braucht, wird man selten alle Forderungen umsetzen. Zudem wird man sagen müssen, wie man die Vorschläge finanzieren will, wenn man regieren will. Sonst gilt man schnell als unseriös. Parteien, die ohnehin in die Opposition gehen wollen, versprechen oft viel – weil sie es dann ja nicht umsetzen müssen.

Setzen sich Politiker eigentlich ehrlich für die Bürger und das Land ein? Oder geht es ihnen nur ums Geld?
Natürlich gibt es überall schwarze Schafe. Es wird aber oft vergessen, die meisten Politiker bekommen kein Geld. Sie arbeiten ehrenamtlich oder gegen wenig Geld in unseren Städten und Dörfern. Wenn man der Meinung ist, dass Parteien und Politiker kein Geld bekommen sollen, muss man sich eben auch bewusst sein, dass sich dann nur Reiche Politik leisten können. In den USA muss jeder zumindest Millionär sein, um Abgeordneter werden zu können. Ganz ehrlich: Ich möchte das nicht. Es ist eine große Errungenschaft, dass Parteien und Politiker Geld bekommen, sodass Politikmachen für alle möglich ist.